Andrea Köhler,
Neue Zürcher Zeitung, August 24, 2002.
Zeit
der Asche
Bilder von Annemarie Schwarzenbach in New York
Am Anfang dieses
von Sehnsucht und Selbstmordversuchen gejagten Lebens steht
eine herrische Mutter: Frau Schwarzenbach, Generalstochter,
Millionärsgattin, Reitdress, Herrenhaarschnitt, Peitsche.
Annemarie, "das arme schöne Kind" (Klaus Mann) neben ihr mit
gesenktem Blick, eine zarte, verzagte Ausgabe ihrer Gebieterin.
Das ist 1932, die Tochter ist 24 Jahre alt. Darüber, auf einem
Bild mit Claude Clarac, ihrem homosexuellen Gelegenheitsgatten,
die Annemarie Schwarzenbach, die wir kennen: schlaksig im
Herrenanzug, selbstbewusst in die Kamera lachend, Amazone,
angelface, die Frau, die die Frauen liebte, berückend schön.
Das ist die Schriftstellerin und Reporterin, die nach Persien
reiste, nach Syrien, Afghanistan, Russland - und nach Amerika.
Die Bilder von dieser Reise sind, nebst einigen Abzügen aus
Danzig und Österreich sowie den Aufnahmen mit Mutter und Mann,
derzeit im Swiss Institute in New York zu sehen: "Annemarie
Schwarzenbach. The Dark Years".
Man kennt Schwarzenbachs
Texte. Die Bilder, die die Journalistin Barbara Lorey de Lacharrière
zu einer einleuchtenden kleinen Schau versammelt hat, sind
weniger bekannt; sie dokumentieren die Zeit der grossen Depression,
die "schwarzen Jahre" 1937 und 1938. Die chronologisch gehängten
Reproduktionen wurden zum Teil in den Bänden "Jenseits von
New York" und "Auf der Schattenseite" publiziert; eine englische
Übersetzung der bemerkenswerten USA-Reportagen Schwarzenbachs
steht noch aus. Den Einstieg machen Photographien von Danzig,
Salzburg und Wien: Werftarbeiter, die "das Meer nie gesehen
haben"; die nationalsozialistische Aufrüstung der Donaustadt:
blondbezopfte Mädel, Hitler-Burschen, Zeitungsstände voller
"Stürmer"-Phrasen. Diese Bilder sind Beweismaterial, politisch
engagiert, ästhetisch nicht interessant. Sie bilden vor allem
ab, was die Photographin zeigen wollte: den mahnenden Gestus
- Europa erwache! Die Bilder der schwarzen Jahre Amerikas
dagegen zeigen, was Annemarie Schwarzenbach sah: verrottete
Industrielandschaften, die Russwüsten der Kohlebergwerke von
Ohio und Pennsylvania, abgestumpfte Gesichter - das Ende des
amerikanischen Traums. Ein Leben, ganz ohne Visionen und Pathos,
die schmutzige, bittere Realität.
Unzweifelhaft
folgte die "gewiegte Revolutionärin", wie ihre Freundin Erika
Mann sie mit mildem Spott charakterisierte, einem sozialdokumentarischen
Ethos; die nüchterne Strenge der Bilder korrespondiert mit
einem sachlichen Blick auf das staubige Elend der Baumwollplantagen
des Südens, die Apathie der Armut in den Industriebrachen
von Ohio und Tennessee. Annemarie Schwarzenbach ist erklärte
Anhängerin von Roosevelts sozialreformerischem Programm New
Deal, dem Versuch, "Kapital und Arbeit, Industrie und Gewerkschaften
unter einen demokratischen Hut zu bringen", wie sie in ihrem
amerikanischen Tagebuch schreibt. In Washington macht sie
Bekanntschaft mit der Farm Security Administration, einer
Vereinigung amerikanischer Photographen, die im Auftrag der
Regierung die Folgen der Wirtschaftskrise dokumentiert - mit
dem einzigen Ziel, den begüterten Teil der Nation zur Hilfe
für die verarmte Bevölkerung zu bewegen.
Annemarie Schwarzenbach
photographierte das Leben als Abraumhalde, die schwarzen Jahre
in den weissen Feldern von Alabama, die grimmige Armut des
Südens, das Gegenstück ihrer eigenen Herkunft. Die Recherchen
im Land der grossen Depression konnten ihre eigenen Depressionen
nicht lindern; das "kreisende aschgraue Loch" und das Morphium
hatten sie fest im Griff. 1940 kehrt sie noch einmal in die
USA zurück, verstrickt sich in eine unglückliche Liebesgeschichte,
begeht einen zweiten Selbstmordversuch, landet in der Nervenklinik,
muss das Land verlassen. Am Ende dieses von Drogen, Affären
und rebellischem Glücksverlangen gebeutelten Lebens steht
ein Baum. Annemarie Schwarzenbach stirbt 34-jährig nach einem
Fahrradunfall in Sils, die Todesumstände bleiben dubios.
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