David Weiss | Tages Anzeiger | Daniele Muscionico
Jan 22 2015
Das «I Ging» eines Melancholikers
Heimlich hat der Künstler David Weiss einen modernen Klassiker der Zeichen und Zeichnungen geschaffen. Das Buch «Die Wandlungen» zeigt fantastische Metamorphosen – ein Seherlebnis.
Das Leben ist ungerecht und der Tod der Gipfel aller Ungerechtigkeiten. Allein seine Existenz ist eine Unverschämtheit. Im Fall des vor zwei Jahren viel zu früh verstorbenen David Weiss aber ist einem Künstler post mortem Gerechtigkeit widerfahren. David Weiss? David Weiss! Er war die eine Namenshälfte der spintisierenden Künstler-Philosophen, die unsterblich sind, seit sie 1979 mit Wurstscheiben einen historischen Arbeiteraufstand zu Uster aufrollten. Hier kommt nicht zuerst das Fressen und dann die Moral, bei Fischli/Weiss kommt beides zusammen. Da dient die Moral dem Menschen, besitzt die Moral Nährwert, messbar in Kalorien.
Doch seit der Verschmelzung von Peter Fischli und David Weiss ging in der Öffentlichkeit vergessen: Weiss war schon davor ein erfolgreicher Künstler; er war ein Zeichner von Ruf, der zwischen 1968 und 1979 ein Œuvre geschaffen hatte, das in erstklassigen Galerien Europas zu sehen war. Er veröffentlichte drei Zeichnungsbüchlein, das legendäre «Regenbüchlein» (1975) und die vergessene «Wandlung» (1976, in einer Auflage von 200 Exemplaren) sogar bei der Edition Pablo Stähli. Was Wunder, dass so ein Schatz, den der Urheber selbst in die Tischschublade legt, dort nicht ewig stillliegt! Und dieses Wunder ist die wunderbare Leistung Einzelner.
Wiederentdecktes Frühwerk
Die Wiederentdeckung von Weiss’ Frühwerk verdankt sich dem Verleger Patrick Frey, Peter Fischli und Oskar Weiss, dem Sohn des Künstlers, sowie Iwan Schumacher, dem Filmemacher und Weiss- Freund. Sie alle haben den Nachlass noch vor dem Tod des Künstlers zu sichten und ordnen begonnen. Daran beteiligt in einem späteren Schritt ist auch Stephan Kunz, der Kurator in Chur, der sein Kunstmuseum durch ein eigenwilliges Ausstellungsprogramm aus dem Dämmerschlaf geholt hat.
Auch in der Sache Weiss ist Kunz eine Rückholung geglückt: Er hat die frühen Arbeiten als einer der Ersten museal aufbereitet, er hat noch an der warmen Hand des Künstlers eine Ausstellung vorbereitet und sie im letzten Frühling einem verblüfften Publikum vorgeführt. Es ist in grossen Teilen die Bestenwahl von Kunz, die gegenwärtig im Swiss Institute in New York zu sehen ist (heimlich hegt dort auch das Guggenheim Pläne für eine Fischli/Weiss-Retrospektive im nächsten Jahr). Und das ist ein Glück, denn Weiss hat in Amerika posthum nach Hause gefunden. Seine vielen Reisen in den USA der 70er-Jahre befähigten ihn später zu seiner Handschrift – unter dem Einfluss amerikanischer Cartoons, abstrakter Kompositionen und kinematografischer Stadtlandschaften.
So weit, so klar. Doch nun verschleift sich die Tiefenschärfe: mit einem opulenten Bilderbuch, «Die Wandlungen», das Patrick Frey zur Weiss-Retrospektive in New York vorlegt. Aberhundert dünne Seiten von Rand zu Rand mit Bildergeschichten übersät, lesbar von oben nach unten, ähnlich der chinesischen Schrift: «Die Wandlungen» wollte schon Weiss seine Blättersammlung nennen, zeichnerische Metamorphosen, die zwischen 1975 und 1979 unterwegs in Marrakesch, Carona und Zürich entstanden waren, schnell, schnell auf kariertes A-4-Umweltpapier geworfen, später mit Tusche auf weisses Papier.
Frey respektierte diesen Wunsch und übernahm den Titel. Der Verleger hat sämtliche bekannten Zeichnungsblätter vereint, ergänzt um unbekannte ältere und um neue – entstanden wenige Tage vor Weiss’ Tod –, und sie zu einem grossen Etwas gebunden. Das Ergebnis ist eine geheimnisvoll intime, westliche Version des I Ging. Es ist ein «Buch der Wandlungen», vergleichbar mit der chinesischen Sammlung von Strichzeichnungen und zugeordneten Sprüchen. Es ist ein Ausdruck der Sinnsuche eines polyvalent hochbegabten Melancholikers.
Wieso macht betroffen, was hier zu sehen ist? Weil das Opus am Mythos eines erfolgreichen und damit hoffentlich glücklichen Künstlers kratzt? Weil es einen delikat-persönlichen Einblick in das Wesen eines Menschen gibt, der zeichnend die Geister zu bannen suchte, die er nicht rief? Tatsache ist: Ursprung der Bildergeschichten waren Weiss’ tiefe (Beziehungs-)Krisen. Ihr begegnete er in Zwiesprache mit sich selbst; interessiert an Traumdeutung und Psychoanalyse inszeniert er eine Art Familien-Aufstellung. Er führt seine inneren Protagonisten vor, die Wut, die Trauer, die Einsamkeit, und lässt sie aufeinandertreffen in einem assoziativen Bilderfluss von Geschichten und Gesichtern.
Das Blatt Papier als Couch
Freies Assoziieren ist das, und das Blatt Papier ist die einladende Couch. Freies Assoziieren mittels Kugelschreiber oder Tusche als selbsttherapeutische Behandlungstechnik. Die Serien sollen teils in wenigen Wochen aus ihm herausgeströmt sein, Bild um Bild auf der Suche nach dem grossen Ganzen, dem Übersichtstableau – dem Verständnis.
Oft beginnt Weiss mit einem Kringel, einem Pfeil, einem Kubus. Dann setzt die Wandlung ein, und das Symbol fliesst in die Form und Richtung, in die es seiner Natur nach fliessen muss. Es läuft über die Seite und läuft aus, Symbole werden Figuren werden Symbole. Die Landschaft wird zur Fläche wird zur Frau und diese zur Landschaft, in der sie wieder verschwindet. Und dann ist auch David Weiss selber sichtbar, der Künstler. Er fasst sich an die Nase – und zieht aus ihr eine nächste Geschichte, ein Gesicht, das er dem Teufel gibt und diesem statt Hörnern Blumentöpfe aufsetzt: Flower-Power. In der Hoffnung, dass das Schöne nicht wieder des Schrecklichen Anfang sei.
David Weiss: Die Wandlungen, Edition Patrick Frey, Edition Weiss No. 170, 2014. Die Ausstellung im Swiss Institute in New York dauert bis 22. 2.
(Tages-Anzeiger)