Walter Pfeiffer | Die Weltwoche

Jul 31 2022


Walter Pfeiffer Swiss Institute

Er ist ein Geschichtenerzähler. Ein Schlitzohr. Und einer der zurzeit bedeutenden Schweizer Künstler. Mit anderen Worten: Walter Pfeiffer ist eigentlich ein Glücksfall für einen Journalisten. Eigentlich? Wenn da nicht die Geschichten wären, die er erzählt, egal, ob man ihn danach fragt oder nicht. Und wenn er ein bisschen weniger schlitzohrig wäre. Und wenn man seiner künstlerischen Bedeutung nicht immerzu gerecht werden müsste – dann wäre es eine einfache Arbeit. Die fadengerade Geschichte von einem, der vom Land in die Stadt kam und es bis ganz nach oben schaffte. Werke von ihm sind in wichtigen Museen und bedeutenden Sammlungen gelandet (etwa im Kunsthaus Zürich oder in der Sir Elton John’s Photography Collection).

Doch die Wirklichkeit ist, wie immer, komplizierter. Ihre Wege sind verschlungen oder jedenfalls nicht fadengerade. Und der Künstler mag es gern, wenn seine Laufbahn ein bisschen im Dunkeln oder wenigstens Unklaren bleibt. Damit er sie beschreiben kann, wie er es will.

Frühwerk in der Schuttmulde

Beispielhaft ist die Geschichte vom Katzenkopf. Er erzählte sie während eines Mittagessens im «Hiltl» in Zürich im Juni – Tel-Aviv-Aubergine, französischer Roséwein, Tiramisu –, obwohl ich sie bereits kannte. Weshalb ich nicht danach fragte. Aber sie war zu gut, um sie nicht noch mal zu erzählen, zudem um eine überraschende Wendung reicher. Sie geht so: Es war einmal ein Junge vom Land, Walter mit Namen, aus Beggingen im Kanton Schaffhausen. Mit neunzehn, im Jahr 1965, zog er nach Zürich, «in ein Zimmer unter dem Dach an der Weinbergstrasse, nur mit einem Bett und einem Kasten drin», um seine neue Stelle anzutreten als Schaufensterdekorateur bei Globus. Den Beruf hatte er zuvor während dreier Jahre in der Einheitspreis AG (EPA) in Schaffhausen erlernt.

Doch schon bald erreichte ihn die Nachricht von der Schule für Talentierte, für zukünftige Künstler vielleicht, die es seit neuestem in der grössten Schweizer Stadt gebe, die Form + Farbe (F + F). Also bewarb er sich – und wurde abgelehnt. «Isch doch glich», sagte er und machte weiter das, was ein paar Jahre zuvor, nebenbei erwähnt, auch Andy Warhol gemacht hatte: Schaufenster dekorieren, in Zürich halt, nicht in Manhattan. Bis plötzlich ein Schreiben der F-+-F-Schulleitung im Briefkasten an der Weinbergstrasse lag: Es sei ein Platz frei geworden in der F + F, der neuen Kunstschule, deren erster Jahrgang vor einigen Wochen begonnen hatte, und man sähe gerne ihn auf diesem Platz. Auch gut, dachte Walter, ging hin – und wurde Künstler.

Ach ja, die Katze. Eine solche, das heisst, den Kopf einer solchen, bloss überlebensgross, ach was: riesig, zeichnete er ebendort als Abschlussarbeit. Das kam gut, wurde ein Wurf oder bedeutendes Werk sogar. Bloss wusste niemand, was damit anfangen, nachdem der Künstler die F + F erfolgreich abgeschlossen hatte. Worauf ihm die Idee kam, den Riesenkatzenkopf seiner Schule in Beggingen zu schenken. Eine Art Hommage des small town boy, der es in der grossen Stadt zu ersten Erfolgen gebracht hatte, an seine Alma Mater. So kam das Schaffhauser Schulhaus zum Katzengrosskopf. Der Abwart fand eine Wand dafür im Treppenhaus. Alles war gut. Bis die Schule umgebaut wurde. Und das pfeiffersche Frühwerk in einer Schuttmulde landete. Was Walters Schwester mitbekam Worauf ein Architekt und, so sieht’s aus, Kunstkenner aus dem nahen Neunkirch den Kopf aus der Mulde zog respektive rettete. Und Walter ihm diesen zum Dank schenkte.

Und just dieser Katzenkopf ist es, den heute, zirka fünfzig Jahre später, die vielen Besucherinnen und Besucher der umfassenden Walter-Pfeiffer-Show im Swiss Institute in New York als Erstes zu sehen bekommen, ausgestellt neben der Eingangstüre, zur Begrüssung sozusagen (es handelt sich bei der Ausstellung in Amerika um die erste «institutional survey», institutionelle Werkübersicht, des Schweizers; sie läuft noch bis 28. August).

Ein Künstlerleben in einer Nussschale, könnte man sagen. Was man doch alles gelernt hat über Walter bis hierher: Kleine Herkunft. Existenzialistische Anfänge. Fleiss. Talent. Zenbuddhistische Haltung bei Rückschlägen («Isch doch glich»). Frühe Entstehung eines Schlüsselwerks. Enges Verhältnis zur Schwester. Entspanntes Verhältnis gegenüber dem eigenen Oeuvre («Isch doch glich»). Späte Beachtung, im Ausland vor allem, und damit verbundener Ruhm . . . Das ist Storytelling, Geschichtenerzählen, reduced to the max, zusammengedrückt bis zum Gehtnichtmehr.

Erzählt von einem, der seinen Auftritt als Unterschätzter verfeinert hat über Jahrzehnte. Der daherkommt wie ein Kauz, ein schräger Onkel oder Grossvater, besonders in der Modewelt, die bewohnt wird von jungen, schicken Menschen. Doch wer ihm diese Rolle abnimmt, ist ihm schon auf den Leim gegangen. Im Körper, im Kopf und hinter der Maske des 76-Jährigen steckt/versteckt sich einer, dessen Begabung so gross ist wie sein Wille stark, es als Künstler zu schaffen. Es bis ganz nach oben zu bringen in Zürich, sich aber auch in Mailand, Paris, New York und anderen Hauptstädten des kreativen Planeten auf der Landkarte einzutragen.

Pfeiffer findet sich und seine Arbeit gut bis sehr gut – was so sein muss; wer sollte es sonst tun? Er hat aber längst erkannt und hingenommen, dass sein Werk nicht allen Augen schmeichelt. Er ist ein artist’s artist, ein Künstler, den andere Künstler mögen und der diese beeinflusst hat, darunter Wolfgang Tillmans, Ryan McGinley, Terry Richardson oder Juergen Teller (sowie eine lange Liste von Kreativ- und Art-Direktoren). Und er weiss, dass er einer ist, den manche nicht verstehen. Oder noch nicht. Darunter solche, die seine Arbeiten zu schwul finden (oder zu camp, wie man kundiger sagt), zu trashy (zu wenig schön) oder natürlich zu «Das könnte ich auch»-mässig – das lahmste Argument des Laienkritikers.

Diese Lebenserfahrung hat dazu geführt, dass Pfeiffer bis heute, ungeachtet zahlreicher Erfolge plus reichlich Bestätigung mittlerweile, bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit Zurückweisung rechnet. So auch bei der Auswahl des Fotos, das schliesslich das Titelbild dieser Weltwoche wurde. «Ich liefere früh – damit Ihr noch jemand anders findet, falls es nicht gut genug ist», beantwortete er die Anfrage.

Aber bloss weil er mit rejection, Ablehnung, rechnet, bedeutet das nicht, dass er an sich und seinen Fähigkeiten zweifelt. Oder bereit ist, etwas zu ändern, damit’s dem Kunden gefällt. «Isch doch glich» ist Walter-Deutsch für «Isch mir doch glich, wänn du’s nöd verstahsch». Pfeiffer ist eine Art Lucky Luke der Kunst – der Cowboy aus dem Comic zieht schneller als sein Schatten, und der Fotograf und Zeichner aus Schaffhausen zieht sein Werk schneller zurück, als der Auftraggeber es ablehnen kann.

Pfeiffer wird von Beobachtern als late bloomer, Spätzünder, beschrieben. Er selbst wehrt sich dagegen nicht. Weshalb sollte er? Ist doch cool, die Geschichte vom alten Schweizer, AHV-Bezüger längst, der plötzlich für die Vogue arbeitet (in verschiedenen Ländern), zudem für Dior oder Hermès, der auf einmal Cara Delevingne porträtiert und so weiter. Es ist auch wahr. Bloss nicht die ganze Geschichte.

Ähnlich wie Warhol in seiner Factory

Genauso gut kann man ihn als Frühreifen darstellen. Seine Ausstrahlung war bereits in den 1970er Jahren glanzvoll, er mit Mitte zwanzig schon ein Star der Zürcher Gegenkultur, bekannt, ja berüchtigt für Bilder nackter Homosexueller, darunter seine Musen, einige caught in the act, beim Geschlechtsakt erwischt; heute, mit frischen Augen betrachtet, entdeckt eine Kritikerin der New York Times darin hochaktuelle «gender fluidity, fliessendes Geschlecht, und alle Spielarten von Performance».

In dieser Zeit entstanden ferner Fotos von «häuslicher Einsamkeit» (Swiss Institute) und Schnappschüsse von Freunden sowie Liebhabern. Als Location diente die Villa an der Freigutstrasse, die Pfeiffer gemietet hatte und in der er Hof hielt, ähnlich wie Andy Warhol in seiner Factory in Manhattan. Einem breiteren Publikum fiel Pfeiffer erstmals 1974 auf, die Gruppenausstellung «Transformer: Aspekte der Travestie» im Kunstmuseum Luzern erreichte Beachtung über Stadt- und Landesgrenzen hinaus. Jean-Christoph Ammann – zusammen mit Hansjörg Mattmüller, einem ehemaligen F-+-F-Lehrer, Pfeiffers grösstem Förderer – war der Kurator du jour.

Später sank Pfeiffers Stern, allerdings nur vorübergehend, wie sich herausstellen sollte. Weshalb, ist nicht klar. Denkbar, dass sein Stil einfach weniger gefragt war: oft grobkörnige, hell ausgeleuchtete Fotos – weil er mit seiner zitternden linken Hand keine ruhigeren, handwerklich klassischeren Bilder bewerkstelligen konnte und kann, sagt er. «Pfeiffer zog sich aus den Kreisen der zeitgenössischen Kunst zurück, verliess Zürich kaum mehr, konzentrierte sich stattdessen aufs Zeichnen und Lehren», gibt die Swiss-Institute-Website seine 1990er Jahre in wohlmeinendem Licht wieder.

Er selbst beschreibt die Zeit trockener: «Ich ging durch die Wüste.» Seine Zeichnungen gehören in meinen Nichtprofi-Kritikeraugen zu den besten Arbeiten, sie sind unterschätzt, finde ich. Als Wissensvermittler – eine ehrenvolle und sinnstiftende Aufgabe – sehe ich ihn dagegen kaum. Er sich wohl auch nicht. Eine Festanstellung sei ihm angeboten worden, sagt er zwar. Doch er habe sie abgelehnt, «weil ich sonst mit dem Lohn ein Hüsli im Tessin gekauft hätte. Und bequem geworden wäre.»

Gut so. Es würde etwas fehlen im Archiv der zeitgenössischen Kunst- und Modefotografie, wenn der begeisterte Wandervogel bloss noch seinem Hobby nachgegangen wäre und sich um das magische Maggiatal gekümmert hätte statt um Models in Mailand, wenn ihm plötzlich Risotto wichtiger gewesen wäre als Roger Federer (den er, neben zahlreichen Berühmtheiten, jüngst porträtierte). Seit den nuller Jahren hat er stilprägende Kampagnen für Schweizer Marken (darunter Fogal) und internationale Brands (Pringle of Scotland, A.P.C., Bottega Veneta) aufgenommen. Sowie erstmals auch kommerziell Erfolg gehabt, Geld verdient also (in dieser Hinsicht ist er ein late bloomer).

Mit 76 Jahren laufen Walter Pfeiffers Geschäfte gut, endlich. Er ist fast zufrieden mit sich und der Welt. Was noch fehlt zum ganzen Glück, ist eine grosse Ausstellung in der Schweiz, sagt er, eine, wie er sie zurzeit in New York hat. Weshalb er die Gelegenheit ergreift, noch mal zu erzählen, wie schön es war in der Welthauptstadt der Kunst, wo er gerade berühmt ist («Oh, Walter, you’re great. Oh, Walter, your work is fantastic. Oh, Walter . . .»). Dann fügt er, schlitzohrig, an: «Aber eben, der Prophet im eigenen Land, das ist eine andere Geschichte.» Da hat er recht. Doch man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen: Er wird seine grosse Ausstellung, seine umfassende Rückschau auch bei uns bekommen. Hier haben Sie’s zuerst gelesen.

by Mark van Huisseling

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